Psalmkompositionen
Psalmvertonungen im Venedig des 17. und 18. Jahrhunderts
Die Faszination, Psalmen musikalisch anspruchsvoll aufzuführen, blickt auf eine weit mehr als tausendjährige Tradition zurück – eine Faszination, die sich möglicherweise auf die besondere poetische Sprache des Psalters und den religiös-spirituellen Erlebniswelten seiner insgesamt 150 Psalmen zurückführen lässt. Der bevorzugte liturgische Ort von Psalmvertonungen im Italien des 17. und 18. Jahrhunderts war die allsonntägliche Vesper. Sie ist ein nachmittäglicher Gottesdienst und erfuhr eine zunehmend musikalisch-prachtvolle Entfaltung. Gerade in Venedig hat sich offenbar schon seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert eine besondere Tradition entwickelt, die im Verlauf des 17. Jahrhunderts immer mehr an Bedeutung gewann und zwar mit immer anspruchsvolleren Vertonungen und mit einer Vermischung von Concerto und Motette.
An herausgehobenen Festtagen waren unterschiedlich prachtvolle Ausgestaltungen zumindest zweier oder dreier Psalmen zu hören. An hohen Festtagen fanden manchmal zwei Vespern statt, die erste am Vorabend, die zweite am Festtag selbst. Es wird vermutet, dass das Kirchenjahr für die Aktivitäten der venezianischen Ospedali bis zu 200 mögliche Vesperaufführungen bereithielt – eine erstaunlich hohe Zahl, die zunächst einmal zur Diskussion steht. Dass die Psalmvertonung eine der wichtigsten kompositorischen Formen im Venedig des 17. und 18. Jahrhunderts darstellt, belegt eindrücklich die hohe Quantität an Manuskripten in den italienischen Bibliotheksbeständen.
Die Vesperpsalmen
Die reguläre Vesperliturgie besteht aus fünf Psalmen mit den dazugehörigen Antiphonen, eingeführt von der Introductio «Deus in adjutorium meum» (aus Psalm 69), anschließend folgen Hymnus, Magnificat (oder Salve Regina oder Miserere) und Pater Noster:
1. Dixit Dominus (109), 2.Confitebor tibi, Domine (110), 3. Beatus vir (111), 4. Laudate pueri Dominum (112), 5. In exitu Israel (113) oder Laudate Dominum (116).
Psalmkompositionen wurden auch zu anderen Gelegenheiten wie während der Tenebrae oder der Totenmesse aufgeführt. Die Bußpsalmen De profundis (129) oder Miserere (50) nehmen dementsprechend im Repertoire der Ospedali einen prominenten Platz ein.
Abbildung: Nicola Antonio Porpora, De profundis (1744). GB-Lbl [add.14128]
Einer besonderen Beliebtheit erfreuten sich die Vertonungen des Psalms Miserere (50). Neben den sehr geschätzten Kompositionen etwa Baldassare Galuppis, Ferdinando Bertonis oder Johann Adolph Hasses ragt Niccolò Jommellis Komposition heraus, die er kurz vor seinem Tod 1774 geschrieben hatte. Sie stellt eine Paraphrase des ursprünglichen lateinischen Texts dar. Die italienische Übersetzung des Werks «Pietà Signore» schrieb Saverio Mattei. Heute zeugen weit über 100 Abschriften des Manuskripts von seiner europaweiten Beliebtheit:
Abbildung: Nicolò Jommelli, Pietà Signore. I-Nc [21.5.20 (olim: Mus.Rel.992)]
Psalmvertonungen an den Ospedali
Hörbeispiel: Baldassare Galuppi, Dixit Dominus aus dem Jahre 1774
Heute nachmittag bewogen mich die lateinischen Psalmen, welche von den Waisenmädchen gesungen wurden, jenem allgemeinen Urteil beizutreten, denn unter zehn oder zwölf Stücken war auch kein einziges, was man hätte unbeträchtlich nennen mögen. Es kamen verschiedene begleitete Rezitative darin vor, und diese ganze Musik war reich an neuen Sätzen, voller guten Geschmacks, guter Harmonie und Überlegung.
(Charles Burney nach einem Besuch einer Vesperaufführung unter der Leitung von Baldassare Galuppi am Ospedale degl'Incurabili am 12. August 1770)
Abbildung: Galakonzert: Cantate Delle Putte Delli Ospitalli Nella Procuratia Fila Monici Fatta Alli Ducchi Del Nord von Gabriele Bella (Pinacoteca Querini Stampalia, Venedig), um 1784.
Charles Burney ist einer von vielen intellektuellen Reisenden, der in begeisterndem Ton von den sakralen Konzerten der vier Ospedali schwärmt. In der Tat zeugen die Kompositionen der Psalmen von einem großen Einfallsreichtum der dortigen Maestri, die den alttestamentarischen Text musikalisch gleichsam zu inszenieren suchen. Wir haben es dabei mit einem vorgegebenen, im orientalischen Reimschema des Parallelismus membrorum verfassten und deshalb nur selten für kleine Abschnitte metrisch gebundenen liturgischen Text manchmal beträchtlichen Umfangs zu tun.
Die Texte selbst beinhalten keine Beschreibung der Art der Vertonung. Es scheint sich dennoch für das 18. Jahrhundert eine Art formales Schema herausgebildet zu haben, auch was das venezianische Repertoire betrifft, und zwar der Nummernpsalm, der jedem Vers einen eigenen Satz zuordnet. Die groß angelegten Psalmvertonungen sind regelrechte Psalmkonzerte: Sie sind für zwei drei-vierstimmigem Chor mit einem oder mehreren Solisten und einem oder zwei Orchestern verfasst. Das ästhetische Prinzip der varietas wird befolgt, die Sätze alternieren dabei nicht nur in ihrem Grundaffekt, sondern auch in der Besetzung zwischen chorischen und solistischen Partien.
In den venezianischen Psalmvertonungen finden sich durchaus unterschiedlich gelagerte musikalische Ausdeutungen, kontrastreiche emotionale Aufladungen von Textpassagen und eine raffinierte Handhabe verschiedener kompositorischer Techniken, in denen sich die Intention der Komponisten zeigt, den Text auch dramatisierend zu interpretieren: die Tradition des Concertare wird fortgeführt, polyphon-kontrapunktische Techniken eingewoben, sei es mit einer Fuge, der Imitatio oder Passagen im stile antico und es fehlen auch nicht die Elemente des dramma per musica, spürbar im Rezitativ, in den Duetti und in der virtuosen Wortmetaphorik in den Arien.
Das immense Repertoire dieser Werke ist bis heute noch nicht annähernd klingend erschlossen, doch es lohnt sich: denn es handelt sich um ein ungemein festliches Repertoire, mit teilweise überwältigender Virtuosität, dramatisierendem Anspruch und einem ungemein abwechslungsreichen und differenzierten Klangspiel des Orchesterapparats.
Literatur / Musik
BURNEY, CHARLES: Tagebuch einer musikalischen Reise, übersetzt von J. Eschenburg, Hamburg 1772.
DERGAL RAUTENBERG, ALAN und WERTENSON, BIRGIT: „The Psalm-Settings of the Venetian Ospedali. Considerations about an extraordinary repertoire”, Publ. in Vorb.
GEYER, HELEN: „Beobachtungen an einigen Vertonungen des 112. Psalms ‚Laudate Pueri‘ für die venezianischen Ospedali (Conservatori)“, in: Musik an den venezianischen Ospedali/Konservatorien vom 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert. Symposion vom 4. bis 7. April 2001 (= Ricerche. Centro Tedesco di Studi Veneziani 1), hrsg. von Helen Geyer und Wolfgang Osthoff, Rom 2004, S. 149-218.
HUCKE, HELMUT: „Vivaldi und die vokale Kirchenmusik des Settecento“, in: Antonio Vivaldi. Teatro musicale, cultura e società, hrsg. von Lorenzo Bianconi und Giovanni Morelli, Florenz 1982, S. 191-206.
GROPPO, ANTONIO: Salmi che si Cantano in tutti li Vesperi Dei Giorni Festivi di tutto l'anno, Dalle Figliuole nelli Quattro Ospitale di questa Città, Venezia 1752.
OVER, BERTHOLD: Per la Gloria di Dio. Solistische Kirchenmusik an den venezianischen Ospedali im 18. Jahrhundert, Bonn 1998.
WHITTEMORE, JOAN: Music of the Venetian 'ospedali' composers, Stuyvesant, NY 1995.