Venezianische Ospedali

Venezianische Ospedali

Bedeutung

Venice has likewise been one of the first cities in Europe that has cultivated the musical drama or opera: and, in the graver stile, it has been honoured with a Lotti and a Marcello. Add to these advantages the conservatories established here … and it will appear that my expectations were not ill grounded. (Charles Burney, 3. August 1770)

Die vier Konservatorien, auch bekannt als Ospedali Grandi, die der intellektuelle Reisende Charles Burney hier erwähnt, waren im Verlauf des 18. Jahrhunderts zu einer musikalischen Attraktion Venedigs geworden. Ein Besuch ihrer prachtvollen Kirchenkonzerte galt gleichsam als ein Muss auf der Italienreise aller Kunst- und Kulturpilger Europas. Der Tagebucheintrag Burneys zeugt zudem davon, dass die Institutionen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einem wesentlichen Bestandteil der Musikgeschichte avanciert waren. Dabei handelt es sich bei den venezianischen Konservatorien um ein exzeptionelles Phänomen, das rund zwei Jahrhunderte die Musikgeschichte Venedigs entscheidend prägte: Die Musikpflege wurde ausschließlich von Frauen bestritten und öffentlich – entgegen des Gebots mulieres in ecclesiam taceant – sowohl im liturgischen Rahmen des Gottesdienstes in den jeweils eigenen Kirchen, aber auch bei staatlichen Ereignissen der Stadt, mit teils atemberaubender Virtuosität und differenzierter Klanglichkeit vorgetragen.

Abbildung: Karte Venedigs und Sitz der vier Ospedali, Ludovico Ughi, 1729, Aquarelliert 1740 (von rechts oben nach unten links: M[edicanti], D[erelitti], P[ietà], I[ncurabili]]. Rechte: Giuseppe Gillio

Der glanzvolle Musikbetrieb der Konservatorien ist erstaunlicher Weise die Folge eines systematischen Ausbaus der Musik für den Gottesdienst, wie er auch in klösterlichen Einrichtungen usus ist. Denn die eigentliche Aufgabe bestand in ihren karitativen Zwecken. Als Ospedali (im Sinne eines Spitals) wurden sie als Kranken-, Waisen-, Alten- beziehungsweise Armenhäuser ins Leben gerufen, um Bedürftigen Obdach und Pflege zu geben. Aufgrund der hohen Prostitutionsrate in Venedig – schätzungsweise die Hälfte aller in Venedig lebenden Frauen waren im 16. Jahrhundert Kurtisanen – gab es eine enorme Zahl ungewollter Kinder und die Neugeborenen wurden sogar in die Kanäle der Stadt geworfen, um sich ihrer zu entledigen. Nicht nur das Ospedale della Pietà als größtes und uns heute bekanntestes Ospedale fungierte deshalb als Abgabeort für Findelkinder, sondern auch die drei weiteren Institutionen nahmen im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts Waisen und Halbwaisen in Pflege und Ausbildung.

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Ospedale dei Mendicanti

Die älteste Einrichtung ist das Ospedale dei Mendicanti, ursprünglich im Jahre 1182 als Hospital für Leprakranke gegründet. 1594 zog es auf die Fondamente Nuove um und übernahm neue karitative Aufgaben, etwa die Versorgung Mittelloser. Die Baulichkeiten aus dem 16. Jahrhundert wurden während der österreichischen Besatzung in das heutige Ospedale civile eingegliedert. Die Kirche selbst ist derzeit geschlossen.

 

 

 

Abbildung: Mendicanti, Fassade des Gebäudes, Luca Carlevariys 1703

 

Die Photographie zeigt den Innenraum der Kirche mit Blick auf den rechtsseitigen Balkon, der eine geringe Tiefe, dafür eine große Breite aufweist und auf dem circa 20-30 Musikerinnen rund um die Orgel Platz finden konnten. Mit Sicherheit eine der glanzvollsten Zeiten erlebte das Ospedale dei Mendicanti während der Mitte des 18. Jahrhunderts, als Baldassare Galuppi für rund ein Jahrzehnt (1740-1751) die Leitung der cori übernahm.

 

 

 

 

Abbildung: Mendicanti, Chorbalkon der rechten Seite

 

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Ospedale della Pietà

Das zweitälteste Institut ist das heute bekannteste: Das Ospedale an der Kirche Santa Maria della Visitazione, genannt Ospedale della Pietà, wurde 1346 gegründet, um den zahlreichen Waisenkindern der Stadt ein Heim zu geben. Es wurde 1515 an die Riva degli Schiavoni verlegt und besteht weiterhin im Istituto provinciale per l'Infanzia S. Maria della Pietà, dessen Einrichtung das Piccolo Museo della Pietà Antonio Vivaldi den wohl renommiertesten Komponisten, der hier gewirkt hat, ehrt und auch Einblick gibt in die Organisation und Betreuung der Waisenaufnahme von einst.

Abbildung: Pietà, Riva degli Schiavoni und neue und alte Kirche, Dionisio Moretti 1828. Rechte: Giuseppe Gillio

Der heute dort befindliche Kirchenbau wurde erst nach Vivaldis Tod im Jahre 1763 eingeweiht und stammt von dem Architekten Giorgio Massari. Er vollzieht wie selten ein kirchliches Bauwerk eine einmalige Symbiose von musikalischer Erfordernis und architektonischer Anlage. Außergewöhnlich ist die Strukturierung des Innenraums: Zwei Chorbalkone liegen einander gegenüber, vier zusätzliche Zwickelbalkone und zwei übereinanderliegende Balkone auf der Eingangsseite boten die Möglichkeit bei großangelegten Werken, die jeweiligen Klangkörper – überliefert ist die Aufführung eines fünfchörigen Oratoriums Bonaventura Furlanettos (dort maestro di cappella von 1768 bis 1818) – im Raum verteilt zu platzieren.

Abbildung: Pietà, Kircheninnenraum

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Ospedale degl'Incurabili

Auf Initiative zweier nobildonne Venedigs, Maria Grimani und Maria Malipiero, nahm man sich im Jahre 1524 der grassierenden Gefahr durch die Syphilis an und gründete auf der Fondamenta delle Zattere direkt am Canale della Giudecca das Hospiz für die unheilbar Kranken: das Ospedale degl'Incurabili (auch Ospedale di Santissimo Salvatore genannt). Der Blick heute auf das Gebäude ist fast unverändert zu dem Stich von Luca Carlevariis aus dem Jahre 1703. Allerdings beherbergt es nun Räumlichkeiten für Teile der Universität.

Abbildung: Incurabili, Gebäudeansicht aus der Perspektive des Canale della Giudecca, Luca Carlevariis, Le fabriche e vedute di Venetia 1703

Bereits wenige Jahre nach seiner Gründung begann man im Jahr 1565 mit dem Bau der Kirche San Salvatore, die daraufhin unter der Leitung des Architekten Jacopo Sansovino errichtet wurde: Hier fanden die großen Kirchenmusikaufführungen zahlreicher renommierter Kapellmeister statt, von Johann Adolf Hasse über Nicola Porpora, Niccolò Jommelli bis hin zu Baldassare Galuppi.

Die Kirche jedoch existiert heutzutage nicht mehr, da sie aufgrund von Baufälligkeiten 1831 abgerissen wurde. Allerdings überliefern die Dokumente, dass ihre Akustik ganz exquisit war: Der ovale Grundriss, die steinernen Wände frei von Ornamentik, die hölzerne Raumdecke – dies sind grundlegende Voraussetzungen für die bestmögliche Klangentfaltung. Sie sind Kennzeichen dafür, dass die Kirche auf ihre musikalische Bestimmung hin konzipiert worden war. Im Innenraum der Kirche gab es zwei Balkone für das mehrchörige Musizieren. Diese waren über einen Rundgang mit dem Institutsgebäude verbunden. Dass sich das Baukonzept als nachhaltig wirkungsvoll erwies, zeigt sich mehr als 150 Jahre später: Es wurde vorbildhaft für den Architekten Giorgio Massari bei der Gestaltung des Neubaus der Kirche für das Ospedale della Pietà.

Abbildung: Incurabili, Längsschnitt der Kirche, Francesco Wcowich Lazzari, 1830ca.

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Ospedale Santa Maria dei Derelitti

 

Hohes Armutsrisiko und Krankheiten sind unter anderem Folgen der starken Zuwanderung nach Venedig im Verlauf des 15. und 16. Jahrhunderts. Präventivmaßnahmen und Pflege der Armen, Kranken und Alten verschrieb sich das 1527 gegründete Ospedale Santa Maria dei Derelitti (aufgrund seiner geringen Größe auch „Ospedaletto“ genannt).

Das Ospedaletto befand sich unweit der Kirche SS. Giovanni e Paolo und damit in unmittelbarer Nachbarschaft des Ospedale dei Mendicanti. Noch heute befinden sich in Teilen des Gebäudes ein Altenpflegeheim, andere Teile sind eingegliedert in das städtische Krankenhaus.

Abbildung: Derelitti, Ansicht der Kirche und des Ospedale, Martin Engelbrecht, erste Hälfte des 19. Jahrhunderts

Im Verlauf des 17. Jahrhunderts wurde die heute zu besichtigende Kirche gebaut: ein einschiffiger Kirchenraum mit flacher Holzdecke, mehreren Altären und imposanter Barockfassade, gestaltet von Baldassare Longhena. Architektonisch spiegelt sich der enorme Stellenwert der Musik in dem weiträumigen und bühnenartig inszenierten Chorbalkon mit Orgel über der Altarwand, der aufgrund fehlender Seitenbalkone das Kirchenschiff dominiert.

 

 

Abbildung: Derelitti, Chorbalkon der Kirche. Photo: Mickey White

Dass am Ospedaletto das Musikleben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts florierte, beweist die Neugestaltung der Sala della Musica aus dem Jahre 1776 mit ihren der Musik gewidmeten Fresken.

Das Bild gibt den Blick vom Haupteingang frei auf das Wandfresko (Jacopo Guarana und Agostino Mengozzi Colonna), das Apollo umgeben von acht Musen in Kleidung der musizierenden Mädchen inszeniert. Der Gott dirigiert die Oper Antigone von Pasquale Anfossi, der ebenfalls rechts im Bild zu sehen ist und in jener Zeit (1772-82) als maestro di cappella tätig war.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Abbildung: Derelitti, Sala della Musica. Rechte: IRE

 

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Musikbetrieb

Seit dem 16. Jahrhundert wird von musizierenden Frauen berichtet, um wohl zunächst der Erbauung der Kranken zu dienen, und gebunden an die Liturgie. Der erste uns überlieferte Beleg ist bemerkenswerter Weise ein Verbot des Vespermusizierens aus dem Jahre 1566 und damit ein Zeichen dafür, dass die Ursprünge der Musikaktivitäten noch weiter zurück zu datieren sind. Während die aufgenommenen Jungen ein Handwerk erlernten und schon in jungen Jahren entlassen wurden, durften die Mädchen erst das Heim verlassen, wenn sie entweder in ein Kloster übertraten, zu familiären Angehörigen zogen oder verheiratet wurden. Viele Frauen entschieden sich für ein Leben innerhalb der Institutionen: dort halfen sie bei der Pflege und Organisation mit, betätigten sich in Spitzenarbeiten, in der Pharmazie, oder übten Musik aus.

Mehreren Umständen verdanken es die vier Ospedali, bereits im ausgehenden 17., spätestens jedoch im 18. Jahrhundert die prachtvolle Musikausübung an San Marco regelrecht zu überschatten: hierzu zählt zunächst einmal die perfekte Organisation des Musikbetriebs. Die Leitung lag in den Händen eines Laiengremiums, der congregazione, zusammengesetzt aus venezianischen Adeligen und Bürgern, mit einem dazugehörigen Kontrollorgan, dem Magistrato sopra Ospitali e Luoghi Pii. Die Mitglieder, genannt governatori, befanden über verschiedene Bereiche der Ospedali und schlossen – meist befristete – Verträge mit den jeweiligen Instrumental- und Gesangslehrern.

Die Musikerinnen, die figlie di coro, erhielten ihre Zulassung zur mehrjährigen Musikausbildung im Alter von sechs bis zehn Jahren: Sie bestand aus einem Gesangsstudium, Unterricht auf mindestens zwei Instrumenten und Unterweisung in Kontrapunkt, Generalbass und Komposition – dies allerdings nicht im Sinne einer Ausbildung zur Komponistin. Erst danach wurde man Mitglied des Coro, den man in der Regel frühestens nach zehn aktiven Jahren verlassen durfte. An der Spitze des Coro stand zwar offiziell der jeweilig angestellte maestro di cappella, allerdings darf die Position der maestra di coro nicht unterschätzt werden. Maestre wurden nur erfahrene Musikerinnen im Alter zwischen 35 und 50 Jahren. Der maestro di coro oblag die Aufsicht beziehungsweise die Übernahme der musikalischen Leitung, sie verantwortete finanzielle, administrative und pädagogische Bereiche, erteilte Unterricht und schuldete den Governatori regelmäßig Rechenschaft.

Neben der perfekten Organisation trug insbesondere ein ausgeklügeltes Finanzsystem zu einem blühenden Musikleben bei: Die Institute florierten wirtschaftlich dank Zuwendungen adeliger Mäzene, des Staates und der Kirche, Testamentsvermachungen und Bankgeschäften, indem Kapital gegen Zinsen von Privatpersonen zur Verfügung gestellt wurde. Eine wesentliche Einnahme bildeten nicht zuletzt die Opferstockgaben, die bei attraktiver Musik dementsprechend höher ausfielen. Insbesondere die immer stärkere Ausrichtung als Konservatorium erwies sich als lukratives Geschäft: gegen Bezahlung erhielten adlige und bürgerliche junge Frauen als Gäste ihre musikalische Ausbildung.

Die finanzielle Leistungskraft der Institute sicherte die intensive Pflege des Musikbetriebs, in die kräftig investiert wurde: Die renommiertesten Instrumental- und Gesangslehrer wie Giuseppe Tartini (extern), Antonio Vivaldi oder Nicola Porpora konnten gewonnen werden. Des weiteren gewährleistete die Stabilität des Coros ein hohes Niveau der Musik und erlaubte es den Maestri, in Kenntnis des Stimmprofils oder der instrumentalen Techniken in ihren Kompositionen das Können der jeweiligen Solistin vorzuführen, gepaart mit teils größter Experimentierfreude. Für das enorme Niveau der Darbietungen und Kompositionen sorgte nicht zuletzt die Rivalität der vier Konservatorien untereinander, wollten sie doch die Gunst des Publikums für sich jeweils alleine gewinnen.

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1777 und die Folgen

Selbst nach der ökonomischen Krise, die 1777 im fallimento der Ospedali gipfelte, konnten die Ospedali eine erste existenzielle Bedrohung dank weiterer Sponsorengelder und den Spenden reicher Mäzene umschiffen – und dies, obwohl die staatlichen Behörden die systematische Auflösung der Cori vorantrieben und sämtliche Maestri entlassen wurden, die teilweise unentgeltlich weiter wirkten. Durch die enge Verflechtung mit der venezianischen Staatsstruktur war jedoch den Ospedali nach der Eroberung der Republik durch Napoleon im Jahre 1797 die ökonomische Grundlage entzogen: Sie wurden neu geordnet. Nur das Ospedale della Pietà bestand selbständig fort, allerdings mit immer kleiner werdendem Musikapparat.

Die Archive der Ospedali mit ihren musikalischen Manuskripten, die vom einstigen Glanz Auskunft geben, existieren teilweise nicht mehr. Restbestände finden sich im Archiv der IRE, dem Archivio di Stato in Venedig und im Bestand des Fondo Correr (Fondo degli Esposti) des Conservatorio di Musica Benedetto Marcello und bezüglich des Ospedale della Pietà dort selbst.. Die vielen Manuskripte sind verloren oder finden sich nun verstreut in ganz Europa. Die Auflösung der Institutionen war verbunden mit einem Sacco di Venezia und hatte zu einem regelrechten Ausverkauf der Musikarchive und zu hohen Verlusten geführt.

Wir müssen uns vor Augen führen, dass das Repertoire der vier Konservatorien nicht nur die einstige Pracht der Konzerte widerspiegelt. Sie sind ein wichtiger Blick auf die Musikgeschichte, denn sie geben – als größtes uns bekanntes Repertoire für Frauenstimmen – auch Auskunft über das Können der Interpretinnen und damit, als Interpretationsgeschichte, über ihre Einflusskraft auf die Kompositionen.

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Literatur:

BALDAUF-BERDES, JANE: Women Musicians of Venice. Musical Foundations, 1525-1855, Oxford 2004.

BURNEY, CHARLES: Dr. Burney's Musical Tours in Europe, 2 Vol., London 1959.

GEYER, HELEN: Das venezianische Oratorium 1750-1820. Einzigartiges Phänomen und musikdramatisches Experiment (= Analecta musicologica 35), Laaber 2004.

GEYER, HELEN: „Die venezianischen Konservatorien im 18. Jahrhundert: Beobachtungen zur Auflösung eines Systems“, in: Musical Education in Europe (1770-1914) (= Compositional, Institutional, and Political Challenges Volume 1), hrsg. von Michael Fend und Michel Noiray, Berlin 2005, S. 31-47.

GILLIO, PIER GIUSEPPE: L' Attività musicale negli Ospedali di Venezia nel Settecento, Florenz 2006.

HOSTRUP-HANSELL, SVEN: Sacred Music at the Incurabili in Venice at the time of J.A. Hasse, in: Journal of the American Musicological Society XXII, 1970, S. 505-521.

MORETTI, LAURA: Dagli Incurabili alla Pietà: Le Chiese degli Ospedali Grandi di Venezia tra Architettura e Musica, Florenz 2008.

OVER, BERTHOLD: Per la Gloria di Dio. Solistische Kirchenmusik an den venezianischen Ospedali im 18. Jahrhundert, Bonn 1998.

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