MusikerInnen

MusikerInnen

Attraktion und Stilisierung

Gegründet als karitative Einrichtungen, konnten sich die vier Ospedali Grandi Venedigs im Laufe des 17. Jahrhundert bis zu ihrer Auflösung Ende des 18. Jahrhunderts als Mekka für Kunstreisende aus ganz Europa etablieren. Das Konzertleben, wie man durchaus in Anbetracht der festlich ausgeschmückten Vespern, der Oratorien, Motetten, Mess- und Psalmkompositionen sprechen kann, entwickelte sich zu einem enorm öffentlichkeitswirksamen und erheblich gewinnbringenden Faktor der Institutionen. Die Darbietungen wurden mit einem Ensemble aus 40-70 Musikerinnen in den jeweils institutseigenen Kirchen bestritten. Renommierte Sängerinnen konnten für Privataufführungen auch außerhalb Venedigs engagiert werden. Selbst den Cori war gestattet, auswärts aufzutreten. Bei außergewöhnlichen staatlichen Feierlichkeiten wurden manchmal alle Cori der vier Institute zusammengelegt.

Abbildung: Venezianisches Galakonzert von Francesco Guardi, 1782 oder wenig später (Alte Pinakothek München). Die figlie di coro musizieren in der Sala dei Filarmonici anlässlich des Staatsereignisses zu Ehren des russischen Großfürsten Paul Petrowitsch und seiner Frau Maria Feodorowna.

Die musizierenden Frauen und insbesondere ihre voci bianche übten eine enorme Wirkungskraft auf die Zuhörer aus, wobei bei dem Vergnügen auch ein sinnlich-erotischer Aspekt für männliche Bewunderer mit hineinspielte: Die engelsgleichen Stimmen verführten wie einst mythische Sirenen und galten als Zwischeninstanz zum Göttlichen, indem sie im unschuldigen Raum der heiligen Kirche wirkten. Die Musikerinnen, auch gerne putte genannt, wurden gleichsam selbst zu Figuren der Anbetung und der Verehrung. Diese Engels-Stilisierung offenbart sich nicht nur in den schwärmenden Texten der Zeitgenossen, sondern auch im Bildprogramm der Kirchen, wie etwa im Deckenmedaillon der Pietà-Kirche von Giovanni Battista Tiepolo:

Signora Angela Vicentina übernahm den Part der Jungfrau Maria. … Diese himmlische Sirene sang und entfachte so großen Jubel in der Brust der Sterblichen, dass das Herz aus lauter Freude vergaß, die lebensnotwendige Luft einzuatmen.

Welch Einzigartigkeit! Welche unpassierbaren Wege der Süße, die sie mal laut, mal leise beschreitet, welche Echos der Melodie dieser engelsgleichen Stimme! Und nicht zuletzt, welch Wunder der Kunst!

(Autor in der Pallade Veneta, im Dezember 1687 nach einem Besuch am Ospedaletto)

 

Abbildung: Deckenfresko (Ausschnitt) von Giovanni Battista Tiepolo in der Kirche Santa Maria della Visitazione (la Pietà): Musizierenden Frauen begleiten die Aufnahme Mariens in den Himmel

Besonders reizvoll mag dabei der Umstand gewesen sein, dass die Musikerinnen nicht gesehen werden konnten. Sie musizierten auf den vergitterten und teils mit Samttüchern verhängten Choremporen, so dass nur Schemen ihrer Gestalt sichtbar waren – welches wohl nicht nur den Genuss an der Musik intensiviert, sondern offenkundig auch die Phantasie der Zuhörer weiter betört haben musste.

 

 

 

Abbildung: Illusionsmalerei: Wandfresko mit zwei Musikerinnen hinter den Chorgittern in der Sala della Musica des Ospedaletto

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Abbildung: Pietà, Blick aus der Chorempore

Einen lebendigen Eindruck vom einstigen musikalischen Glanz vermittelt das folgende Video: Das Ensemble Schola Pietatis Antonio Vivaldi (Vivaldi's Women) besteht allein aus Sängerinnen und Instrumentalistinnen. Das Video mit einer Aufnahme von Vivaldis Dixit Dominus wurde am Schauplatz der Pietà gedreht:

[http://www.youtube.com/user/VivaldisWomen#p/u/4/nsSczzYxWFQ]

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Ausbildung und Wirkungsraum

Waisenmädchen mit einem vielversprechenden musikalischen Talent wurden bereits im Alter zwischen sechs und zehn Jahren in den Coro des jeweiligen Ospedale aufgenommen. Im Grunde begann dann eine mehrjährige Ausbildung zur professionellen Kirchenmusikerin. Danach war ein zehnjähriges Musizieren im Coro obligat. Erst danach durfte die figlia di coro das Ospedale verlassen.

Die jungen Mädchen wurden auf allen gebräuchlichen Instrumenten unterrichtet und beherrschten, neben dem Gesang, mindestens zwei Instrumente: die üblichen Streich- und Tasteninstrumente, aber auch Trommeln, Pauken, Ottavini, Glockenspiele, Sonagli, Hörner, Fagotte, Trompeten, Posaunen, Serpente, Sistrum, Trombe marine, Traversi, Englischhorn und Klarinette. Ihre Lehrer waren sorgfältig ausgesucht: zunächst die Maestre, dann die großen Virtuosen ihrer Zeit, im Violinspiel etwa Antonio Vivaldi, Giuseppe Tartini und Carlo Tessarini, im Gesang Nicola Antonio Porpora, der an mehreren Ospedali wirkte und eine Gesangsschule begründete.

Abbildung: Orfane Filarmoniche von Giovanni Grevenbroich. Musizierende Waisenmädchen eines Ospedale (mit Widmung an die Sängerin Beatrice Fabris aus dem Ospedale dei Mendicanti (Museo Correr, Venedig)

Die höchste Position, die eine figlia di coro innerhalb der Konservatoriumsstruktur einnehmen konnte, war die der maestra di coro. Ihr oblag die Leitung des Coro, die komplette Verantwortung für den musikalischen Apparat und generell die Ausbildung des Nachwuchses. Die Maestri hatten zudem das Privileg, die adligen oder bürgerlichen Mädchen von Außen zu unterrichten: die sogenannten figlie in educazione und die figlie in spese, die gegen Bezahlung von den Ospedali aufgenommen wurden.

Aufgrund des exzellenten Rufs aber auch der moralisch-religiösen Ausrichtung schickten ausländische Höfe ihre Damen nach Venedig zur Ausbildung und trugen dafür die nicht unerheblichen Kosten. Vom Dresdner Hof August des Starken reisten die beiden Schwestern Anna und Maria Rosa Negri nach Venedig – später sollten sie unter Händel singen. Prominente Beispiele sind außerdem Marianna Verges aus Mannheim und Maria Magdalena Lippin, die spätere Ehefrau Michael Haydns in Salzburg, für die Wolfgang Amadeus Mozart sein Laudate Dominum (in KV 339) komponierte. In diesem Sinne hatten sich die vier Ospedali zu Vorformen späterer Konservatorien etabliert.

 

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Virtuosinnen am Instrument und im Gesang

Im Gegensatz zu den renommierten neapolitanischen Konservatorien hat an den venezianischen Ospedali keine eigene schulemachende und damit historisch nachweisbar sich auswirkende Komponistenausbildung stattgefunden. Die venezianischen Konservatorien waren im Grunde ein in sich geschlossenes System, das zwar durch seine Konzerte nach außen wirkte, jedoch die Musikerinnen nicht für eine öffentliche Karriere ausbildete: Sie sollten möglichst ihr Können Zeit ihres Lebens in den Dienst des Instituts stellen – was die meisten der figlie, insofern sie nicht ins Kloster gingen oder heirateten, auch taten.

Dennoch zeigt sich anhand der enormen Wirkung der Musikerinnen ihr weitreichender Einfluss, der im Hinblick auf die kompositorischen Stilerneuerungen von größter Bedeutung ist. Dies betrifft nicht nur die Leistung der Sängerinnen, sondern auch der Instrumentalistinnen, deren Virtuosität nicht zuletzt zur Experimentierfreudigkeit seitens der Komponisten führte. Solches spiegelt sich auch in den Psalmkompositionen wider, deren Ausprägung an den Ospedali als Versuch angesehen werden kann, zwischen zeitgenössischem Theater- und Kirchenstil zu vermitteln und in denen die Instrumentalstimme zum Partner der Singstimme aufgewertet wird oder auf dem renommmierten und bei weitem international attraktiven Gebiet des Oratoriums, wo Zukunftsweisendes und Ungewöhnliches gelang. Es wird jedoch im besonderen Maße spürbar in der Entwicklung des Solokonzerts.

Zu Zeiten Antonio Vivaldis feierte man in Venedig vor allem eine Musikerin am Ospedale della Pietà, Anna Maria, auch mit dem Beinamen «del violino» bezeichnet – zum Beispiel in einem Lobgedicht eines uns anonymen Autors:

Ecco dunque che da pria

come duce nel drappello

vien la brava Annamaria,

vera idea del buon, del bello.

 

Il violin suona in maniera

che chi l'ode imparadisa,

se pur là sull'alta sfera

suonan gli angeli in tal guisa.

[...]

Come lei qual professore

suona cembalo o violino,

violoncel, viola d'amore,

liuto, tiorba e mandolino?

Nun also, den Weg geleitend

wie der Führer einer Truppe,

kommt die tüchtige Annamaria,

wahrhaftige Verkörperung des Guten, Schönen.

 

Die Violine spielt sie auf eine Art und Weise,

ins Paradies aufsteigend, der sie hört,

falls es wahr ist, dass in jener Sphäre

die Engel in dieser Weise spielen.

[…]

Welcher Könner spielt wie sie

das Cembalo oder die Violine,

das Violoncello, die Viola d'amore,

Laute, Thiorbe und Mandoline?

Zum Problem der Besetzung:

Viele uns erhaltene Manuskripte, die nachweislich von den figlie di coro der Ospedali aufgeführt worden und auch ursprünglich für Frauenstimmen komponiert worden waren, finden sich heute in einer für uns erstaunlichen Besetzung: nur wenige sind, wie man annehmen könnte, für Sopran- und Altstimmen, sondern in den Besetzungen SSAB bzw. für gemischten Chor SATB geschrieben, wie beispielsweise Ferdinando Bertonis Dixit Dominus von 1760 für das Ospedale dei Mendicanti.

Es gibt zahlreiche Deutungsansätze für diesen Sachverhalt: bekannt sind in der Tat durchaus Sängerinnen mit tiefem Stimmambitus wie etwa Anna dal Basso, die zu Vivaldis Zeiten an der Pietà wirkte oder die 1758 verstorbene Anna Cremona der Mendicanti, die die teils hohen Basslinien, die oftmals im Tenorbereich verlaufen, übernehmen konnten – zumal der tiefe Stimmbereich stets unterstützt wird von den parallel verlaufenden Continuo-Instrumenten. Andererseits ist es wiederum denkbar, dass die Sängerinnen ohne weiteres die jeweiligen Gesangspartien bei der Interpretation oktavierten. Diese Praxis wurde nachweislich am Ospedaletto unter Porpora und Pampani gepflegt. Auch kann es sich bei den gefundenen Manuskripten um Revisionen handeln, angefertigt für weitere Aufführungsorte. Die These, dass männliche Sänger bei der Aufführung mitwirkten, ist nicht haltbar. Allerdings liegen Zeugnisse vor, dass teilweise der Instrumentalcoro von männlichen Kollegen, d.h. den maestri di strumenti bzw. Mitgliedern der Cappella di San Marco, in Ausnahmefällen aufgestockt wurde, nicht jedoch der Gesangsapparat.

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Karrieren: Ruhm und sozialer Aufstieg

Unter den Mädchen der Ospedali waren die figlie del coro die privilegierte Klasse. Sie waren, mit Ausnahme des Ospedale della Pietà, von den täglichen Aufgaben befreit, wurden für ihre Arbeit entlohnt und an den Abgaben im Opferstock beteiligt, so dass sich nicht wenige renommierte Musikerinnen teure Gewänder und Schmuck und damit ein Stück weit finanzielle Unabhängigkeit leisten konnten. Außerdem gelang einigen Musikerinnen der Schritt in die höhere Gesellschaft über eine Heirat mit reichen wie adligen Männern des Veneto.

Für eine Karriere auswärts – und das bedeutet: auf den Opernbühnen – wurden den figlie einige Hindernisse in den Weg gelegt. Sie durften nur unter Verlust ihrer nicht unerheblichen finanziellen Mitgift eine Bühnenkarriere anstreben. Doch zeigen einige prominente Beispiele, dass dies die Frauen nicht abhalten ließ. Bühnenerfolge in ganz Europa feierten etwa Lelia Acchiapati, Lucia Cassini Stella, Anna Capiton, Cecilia Martinelli oder Vincenza Marchetti.

Mit welchen Hindernissen die Frauen teilweise konfrontiert waren, zeigt das Beispiel der später so erfolgreichen Ospedali-Sängerin Adrianna Ferrarese, verheiratete del Bene. Sie wirkte am Ospedale dei Mendicanti im Zeitraum zwischen 1780 und 1782 und avancierte zu einer der besten Sopranistinnen: 1789 sang sie in Mozarts Le nozze di Figaro die Susanna, im Jahr darauf debüttierte sie als erste Fiordiligi in Mozarts Così fan tutte.

Für ihre Karriere musste sie in einer abenteuerlichen Flucht das Ospedale verlassen. Mit ihr floh die noch junge Altvirtuosin Bianca Sacchetti, die allerdings, nachdem sie gestellt worden waren, reumütig in das Ospedale zurückkehrte und dort bis zu ihrer Heirat mit ihrem Gesang zahlreiche Komponisten inspirierte: Nicht nur Simon Mayr komponierte für sie, sondern auch Joseph Haydn widmete ihr seine Motette Arianna a Naxos (1790).

 

 

Abbildung: Sig:ra Andrianna Ferrarese, Principal Singer at the King's Theater, London um 1785

 

 

Auch wenn die figlie di coro in Kontrapunkt und Satztechnik unterwiesen wurden, diente dies nicht als Ausbildung zur Komponistin. Doch von machen komponierenden Frauen der Ospedali wissen wir heute dennoch: Maddalena Lombardini Sirmen (1745-1818) ist mit die bekannteste Komponistin, die aus den Konservatorien hervorging. Sie machte überdies auch als Sängerin und Geigenvirtuosin internationale Karriere: Sie erhielt ihre Ausbildung an den Mendicanti, wurde dort von Tartini im Violinspiel unterwiesen. Nach ihrer Heirat begann sie, auf den Bühnen Europas zu wirken: im Pariser Concert Spirituel, in London, Dresden und Russland. Sie veröffentlichte als erste uns bekannte Frau Kompositionen für die Violine, Kammermusik und Konzerte. Ihre Werke wurden bis zu ihrem Tode 1818 verlegt. Ihr gebührt das Verdienst, einige bisher kaum gewürdigte Elemente des Wiener 'klassischen' Quartettstils offenbar vorweggenommen zu haben.

 

 

Abbildung: Maddalena Lombardini Sirmen (Civica Raccolta delle Stampe Achille Bertarelli, Castello Sforzesco, Mailand)

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Literatur

ARNOLD, DENIS: Orphans and Ladies. The Venetian Conservatories (1690-1797), in: Proceedings of the Royal Musical Association LXXXIX (1962-1963), S. 31-47.

ARNOLD, ELSIE und BALDAUF-BERDES, Jane: Maddalena Lombardini Sirmen. Eigtheenth-century-composer, violinist and businesswoman, Lanham, Maryland und London 2002.

GEYER, HELEN und OSTHOFF, WOLFGANG (Hrsg.): Musik an den venezianischen Ospedali/Konservatorien vom 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert. Symposion vom 4. bis 7. April 2001 (= Ricerche. Centro Tedesco di Studi Veneziani 1), Rom 2004.

GEYER, HELEN: „Die venezianischen Konservatorien im 18. Jahrhundert: Beobachtungen zur Auflösung eines Systems“, in: Musical Education in Europe (1770-1914) (= Compositional, Institutional, and Political Challenges Volume 1), hrsg. von Michael Fend und Michel Noiray, Berlin 2005, S. 31-47.

GEYER, HELEN: Cantavano come usignoli: Le 'putte' e la loro influenza sulla musica dei quattro ospedali/conservatori veneziani, in: Donne a Venezia: vicende femminili fra Trecento e Settecento, hrsg. von Susanne Winter, Rom 2004, S. 157-202.

GILLIO, PIER GIUSEPPE: L' Attività musicale negli Ospedali di Venezia nel Settecento, Florenz 2006.

GIRON-PANEL, CAROLINE: Gli Ospedali: Luoghi e Reti di Socialità femminili, [Beitrag zum Kongress: Donne a Venezia. Spazi di libertà e forme di potere (sec. XVI-XVIII), Venedig, 8.-19. Mai 2008]: http://www.storiadivenezia.net/sito/donne/Giron-Panel_Ospedali.pdf.

OVER, BERTHOLD: Per la Gloria di Dio. Solistische Kirchenmusik an den venezianischen Ospedali im 18. Jahrhundert, Bonn 1998.

SELFRIDGE-FIELD, ELEANOR: Pallade Veneta. Writings on Music in Venetian Society 1650-1750, Venedig 1985. [Daraus entnommen die Rezension von 1687, S. 198].

TALBOT, MICHAEL: „Anna Maria's Partbook“, in: Musik an den venezianischen Ospedali/Konservatorien vom 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert. Symposion vom 4. bis 7. April 2001 (= Ricerche. Centro Tedesco di Studi Veneziani 1), Rom 2004, hrsg. v. Helen Geyer und Wolfgang Osthoff, S. 23-79. [Daraus entnommen das Lobgedicht auf Anna Maria, S. 29-30].

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